Ein undemokratisches Abstimmungsresultat
Wir müssen Demokratie ganzheitlich denken. Demokratie heisst nicht nur, wählen und abstimmen zu können. Demokratie beinhaltet auch das Recht auf Teilhabe. Die Teilhabe möglichst aller Menschen als gleichwertige Individuen am gesellschaftlichen Leben. Zum Beispiel in der Arbeitswelt, im Bildungssystem oder am öffentlichen Leben. So verstanden, verwirklicht ein demokratisches System die Selbstermächtigung möglichst vieler durch den Einschluss möglichst aller. Demokratisches Handeln lässt mit verschiedenen Motiven begründen: Mit Solidarität oder Nächstenliebe, mit Menschenwürde, der Überzeugung, dass alle Menschen gleich sein sollen oder auch mit der blossen Erkenntnis, dass selbstermächtigtes Handeln viele Potenziale freisetzt, die zu Prosperität in verschiedenster Hinsicht führen, was wiederum konstruktiv auf die Gesellschaft rückwirkt.
Solche demokratischen Motive lagen einer Mehrheit der Zürcher Stimmbevölkerung in ihrem Abstimmungsverhalten am 24. September eindeutig fern. Sie hat entschieden, dass vorläufig aufgenommene Menschen nicht zu dieser Gesellschaft gehören sollen – obschon sie dies faktisch längstens tun und weiterhin tun werden. Sie hat entschieden, dieser Gruppe von Personen grundlegende Rechte abzusprechen – eine menschenwürdige Existenzsicherung im Falle von Sozialhilfeabhängigkeit, finanzielle Leistungen für den Berufseinstieg, ausreichend Wohnraum. Vorläufig aufgenommene Menschen, so ist das Verdikt der Stimmbevölkerungsmehrheit im Kanton Zürich zu werten, werden bloss geduldet, jedoch nicht anerkannt als Teil dieser vielfältigen Gesellschaft. Das Recht auf Teilhabe wurde ihnen versagt.
Von demokratischem Handeln sind wir weit entfernt. Malek Awssi schreibt in der Papierlosen-Zeitung, dass eine „neue Strategie“ benötigt werde, um jene Menschen zu erreichen, die am 24. September ja gestimmt hätten: „Wir Geflüchteten müssen mehr in der Öffentlichkeit arbeiten, indem wir direkt Leute ansprechen und sie auf unsere Probleme aufmerksam machen.“ Man könnte auch sagen: Den Menschen zeigen, dass man hier lebt – dass man dazugehört und dass zu Zugehörigkeit auch das Recht auf Teilhabe gehört. Eine Herkulesaufgabe.
Auf eine langfristige „Transformation“ der Gesellschaft in Richtung ganzheitlich-demokratischer Gesellschaft zielt zudem das neu gegründete Institut Neue Schweiz (INES) ab. Auf starke Impulse ist zu hoffen.
Hinsichtlich der Situation vorläufig aufgenommener Menschen in Zürich bleibt nach der Abstimmung aber vorerst ein Scherbenhaufen übrig. Die finanzielle Situation von Sozialhilfe abhängigen Personen wird prekär. Zudem geraten vorläufig aufgenommene Personen betreffend Integrationsleistungen und Wohnsituation ab nächstem Jahr in Ungewissheit und werden künftig vollständig von den politischen Entscheiden ihrer Wohngemeinden abhängig sein. Einige Mitglieder des Komitees „Integrationsstopp Nein“, darunter die Freiplatzaktion, planen deshalb ein Monitoring: Betroffene sollen in Behördengängen unterstützt und das Verhalten der Gemeinden soll dokumentiert werden. Wir werden Ihnen darüber berichten, wenn es konkret wird.